In seinem TED-Talk What explains the rise of humans? aus dem Jahr 2015 spricht der Historiker Yuval Noah Harari von der Hebrew University of Jerusalem über eine Fähigkeit, die uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet: das Geschichtenerzählen.
Diese Fähigkeit erlaubt es uns im Unterschied zu ihnen, in sehr großen Gruppen zusammenzuarbeiten. Um eine Masse von Einzelnen dazu zu bringen, ein gemeinsames Ziel zu erreichen, braucht es eine Geschichte, an die sie glauben und der sie folgen, die ihnen Identität verleiht und sie zu einer Gemeinschaft zusammenschweißt: Religion, Nation, Ideologie, Geld, Menschenrechte etc.
Menschen folgen Visionen
Nur aufgrund dieser Fähigkeit konnte die Menschheit so erfolgreich werden, nicht nur im Vergleich zu anderen Lebewesen, sondern auch im Hinblick auf kulturelle Leistungen, die es laut Harari ohne die Fähigkeit zum Geschichtenerzählen nicht gäbe. In seinem Ted Talk bringt er diese These schön auf den Punkt:
You can never convince a chimpanzee to give you a banana by promising him „… after you die, you’ll go to chimpanzee heaven and you’ll receive lots and lots of bananas for your good deeds. So now give me this banana.“ No chimpanzee will ever believe such a story. Only humans believe such stories, which is why we control the world.
Geschichten geben Antworten auf existenzielle Fragen
Aus Sicht des Professionellen Storytellings liegt hier die entscheidende und existenzielle Funktion des Geschichtenerzählens:
- Geschichten geben Wissen, Werte, Tradition und Kultur weiter,
- stiften damit Identität, konstituieren solidarische Gemeinschaften und stärken ihren Zusammenhalt,
- ermöglichen es uns auf diese Weise, in einer chaotischen Welt (Lebens-)Orientierung und Weltsicht, Kontrolle und Sicherheit, Hoffnung und Vertrauen zu gewinnen und
- helfen uns somit dabei, unsere Existenz zu erkennen, unser Leben zu verstehen und unseren Daseinszweck zu erfüllen.
Die Kraft, Identitäten zu stiften, Gemeinschaften zu konstituieren und zu stabilisieren sowie Orientierung und Sicherheit zu geben, schöpfen Geschichten daraus, dass sie Antworten auf existenzielle Fragen geben:
Wie soll ich leben? Wie kann ein erfülltes, glückliches Leben gelingen? Woran soll ich glauben? Warum bin ich hier? Was sind Sinn und Zweck meines Daseins? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Welche Werte sollen unsere Gemeinschaft leiten?
Geschichten sind Wertediskurse
Geschichten geben uns die Möglichkeit, uns über die Werte zu verständigen, nach denen wir leben wollen. Sie sind also immer auch Wertediskurse. Ohne diese Eigenschaft als Wertediskurs bleibt eine Geschichte eine oberflächliche, nichtssagende und vor allem wirkungslose Abfolge von Ereignissen und Handlungen eindimensionaler und langweiliger Protagonisten.
Diese Kraft haben Geschichten, weil sie
- existenzielle Themen bearbeiten,
- universelle Werte (Liebe, Leben, Freiheit, Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Sicherheit, Kontrolle, Selbstbestimmung, Anerkennung, Gesundheit, Identität etc.) und Wertekonflikte (Freiheit versus Sicherheit, Zugehörigkeit versus Selbstbestimmung usw.) thematisieren,
- Ziele und Motivationen, Ängste und Sehnsüchte, Wertesysteme und Überzeugungen, Krisen und Persönlichkeitsentwicklungen von Menschen beleuchten,
- die kausallogische Entwicklung von Konflikten – also ihre Entstehung, ihre Austragung und ihre Auflösung – analysieren,
- etwas darüber aussagen, was es heißt, Mensch zu sein und in der Welt zu sein, und damit die Bedingungen für die Möglichkeit eines glücklichen Lebens und einer funktionierenden Gemeinschaft beschreiben.
Vor allem das Potenzial, Identität zu stiften und Gemeinschaften zu begründen, ist ein wichtiger Aspekt des Professionellen Storytellings – auch im Journalismus, in Unternehmen, Parteien und sonstige Organisationen.