Die Held*innenreise ist ein Modell zur Gestaltung der Charakterentwicklung einer Hauptperson von der Egoist*in zur Held*in (zur Entstehung der Held*innenreise siehe auch „Warum funktioniert Professionelles Storytelling?“).

Sie erzählt also nicht, wie oftmals missverstanden, von wagemutigen Held*innen, die in die Welt aufbrechen, auf spektakuläre Weise gute Taten vollbringen und das Böse besiegen. Vielmehr erzählt sie von einer Held*innenwerdung: Am Anfang der Geschichte ist die Hauptperson weit davon entfernt, ein*e Held*in zu sein. Sie wird erst im Laufe der Geschichte zu eine*m.

Dass die Held*innenreise – zumindest in ihrer ursprünglichen mythologischen Bedeutung – oft missverstanden wird, liegt daran, dass der Begriff „Held“ seit einigen Jahren in diesem naiven Verständnis von „Heldentat“ immer inflationärer verwendet wird.

Naive Held*innen: die große Tat

Die Fußballweltmeister von 2014: Helden. Ein waghalsiger Sprung aus der Stratosphäre: eine Heldentat. Das Marketing bezeichnet solche Events sogar als »Hero Content«. Kein anderes Verständnis könnte falscher sein. Das soll nicht heißen, dass solche Aktionen nicht trotzdem sehr erfolgreich sein können. Viele von ihnen erzeugen enorm viel Aufmerksamkeit. Sie haben nur nichts mit Heldentum im Sinne der Held*innenreise zu tun. Ganz im Gegenteil.

Wer hingegen in der U-Bahn einem Menschen hilft, der von anderen bedrängt wird – die ist eine Held*in. Wer sich unentgeltlich für geflüchtete Menschen engagiert – die ist eine Held*in. Ehrenamtler*innen – alles Held*innen. Unternehmen, die ihre Corporate Responsibility nicht nur als Image-Anstrich sehen, sondern sie ins Zentrum ihrer Existenz stellen: Helden.  Politiker*innen oder Manager*innen, die einsehen, dass sie nicht kompetent genug für ihren Job sind und zurück- oder nicht antreten: Held*innen. Eine Person, die ihre Arbeit reduziert oder auf Aufträge verzichtet, um mehr Zeit für ihre Familie zu haben: ein*e Held*in.

Mythologische Held*innen: das sinnerfüllte Leben

Zu Held*innen werden Menschen also, wenn sie sich für die Gemeinschaft einsetzen, zu ihrem besseren Gelingen beitragen, ihr Ego ihr zugunsten zurückstellen, für sie auf etwas verzichten, ihr etwas zurückzugeben oder mit ihr teilen, ohne auf eine Gegenleistung zu schielen, oder wenn sie sogar bereit sind, sich für sie zu opfern (wobei unter „gelingender Gemeinschaft“ jede Form von positiver Beziehung zwischen Menschen gemeint ist: Liebes-, Familien-, Eltern-Kind-, Freundschafts-, Nachrbarschafts-, Kolleg*innen-, Mitarbeiter*innen-, Partnerschaftsbeziehungen, Beziehungen, die auf gemeinsam geteilten Werten, Vergangenheiten oder erwünschten Zukünften, auf religiösen, ethnischen, kulturellen, traditionellen, gesellschaftlichen oder staatsbürgerschaftlichen Aspekten beruhen etc.).

Durch diese Zuwendung zur Gemeinschaft konstituiert die Hauptperson die Gemeinschaft oftmals erst, verdient sich die Aufnahme in sie oder festigt ihre Zugehörigkeit zu ihr und ihr Leben erhält Sinn und Bedeutung.

„Solidarität“ als Meta-Wert

Die Held*innenreise und ihr Hautpersonen geben also immer eine Antwort auf die Fragen nach dem sinnerfüllten Leben und der guten Gesellschaft:

Wie müssen wir uns verhalten, damit unsere Gemeinschaft funktioniert und wir ein sicheres Leben führen, Vertrauen und Loyalität erfahren, um unserer selbst willen anerkannt und gerecht behandelt werden?

Die Antwort lautet: Wir müssen solidarisch zueinander sein. Der Meta-Wert, über den Held*innenreisen erzählen und den die Hauptperson realisieren muss, ist also Solidarität. Ohne Solidarität kann eine Gemeinschaft nicht funktionieren und ohne funktionierende Gemeinschaft können wir kein gutes Leben führen.

Das griechische Wort für Held – »Heros« – bedeutet seiner Wurzel nach »Beschützer« bzw. »dienen«. Wer uns als Individuum beschützt und uns als Teil der Gemeinschaft dient, mit der identifizieren wir uns, der glauben wir, wir folgen ihr, rezipieren ihre Inhalte, kaufen ihre Produkte, wählen sie.

Charakterentwicklung: vom Individualismus zur Gemeinschaft

Die Charakterentwicklung der Hauptpersonen zu Held*innen vollzieht sich von ihrem anfänglichen Egoismus hin zur Zuwendung zur Gemeinschaft. Oder in der Terminologie der Schicksalsanalyse ausgedrückt: von der Ich- zur Du-Bezogenheit (zur Anwendung der Psycho- und Schicksalsanalyse in der Filmdramaturgie empfehle ich den Blog Filmpsychoanalyse von Holger Schumacher). Dem Schicksalsanalytiker Leopold Szondi zufolge befriedigen sie damit ein „Ur-Bedürfnis des Ich“. Dieses Bedürfnis ist

„die Sehnsucht, mit den anderen Ich eins, gleich und verwandt zu sein“.

Die zwölf Stationen der Held*innenreise

In der Held*innenreise verläuft diese Charakterentwicklung in zwölf Stationen, die sich in fünf Ich-Phasen einteilen lassen:

Die erste Station – die gewohnte Welt – stellt das „alte Ich“ der Hauptpersonen dar, ihr gewöhnliches Leben, in dem sie den Wert ihrer Gemeinschaft nicht ausreichend schätzen, sondern egoistisch agieren, weshalb die Gemeinschaft nicht optimal funktioniert.

Im Ruf des Abenteuers – der zweiten Station – wird das „alte Ich“ herausgefordert: Eine Nachricht oder ein Ereignis stört die gewohnte Welt der Hauptpersonen derart, dass sie nicht wieder in den alten Zustand zurückkehren können.

Zuerst nehmen sie diese Herausforderung in der Weigerung (dritte Station) jedoch nicht an, weil sie vor etwas Angst haben.

Erst nachdem sie in der vierten Station – die Begegnung mit dem Mentor – die Unterstützung von einer Person annehmen,  die sie auf ihre Veränderung vorbereitet, sind sie in der fünften Station – dem Überschreiten der ersten Schwelle – bereit, ihre Reise anzutreten.

Bis hier hin agiert ihr „alte Ich“ (erste Phase). Mit der sechsten Station – Prüfungen, Verbündete und Feinde – beginnt es, sich nach und nach zu verändern (zweite Phase): Die Hauptpersonen überwinden Hindernisse oder scheitern an ihnen, machen neue Erfahrungen und entwickeln neue Denk- und Handlungsweisen.

In der siebten Station – der Annäherung an die tiefste Höhle – begeben sie sich an einen Ort, an dem ihr entwickeltes Ich sich beweisen muss.

Diesen Beweis müssen sie in der entscheidenden Prüfung erbringen, der achten Station, in der ihr altes Ich „stirbt“ und ihr neues Ich „geboren“ wird (dritte Phase). Während sie in der sechsten Station noch scheitern konnten, müssen sie hier erfolgreich sein und zeigen, dass sie das, was sie gelernt haben, auch tatsächlich anwenden können. Bestehen sie diese Prüfung nicht, ist ihre Reise beendet und alles verloren.

Bestehen sie sie, agieren ab jetzt ihr neues Ich und sie erhalten eine Belohnung (neunte Station).

In der zehnten Station – dem Rückweg – muss sich ihr neues Ich Bewährungsproben stellen (vierte Phase).

In der Auferstehung – der elften Station – lösen sie ihren zentralen Konflikt und vollziehen sich ihre Charakterentwicklungen endgültig. Auch die letzte antagonistische Kraft ist besiegt und die letzte Angst überwunden. Die Hauptpersonen können jetzt ihr gesamtes Potenzial abrufen, da sie sich wieder im ursprünglichen Zustand der „Ganzheit“ befinden (fünfte Phase).

In der zwölften Station – der Rückkehr – kehren sie  als neuer Mensch in seine alte Gemeinschaft zurück und erweisen sich als Held*innen, indem sie ihrem guten Funktionieren den Vorrang vor ihren egoistischen Bedürfnissen geben.

Weiterführende Inhalte

Ausführlich und anhand der Analyse von Filmbeispielen beschreibe ich die Funktionsweise der Held*innenreise und der Archetypen in der vierteiligen Artikelreihe auf dem Dramaturgieblog www.filmschreiben.de, den ich seit Oktober 2014 gemeinsam mit dem Drehbuchautor Arno Stallmann und anderen Autor*innen betreibe.

Wenn Sie sich intensiver mit der Held*innenreise auseinandersetzen wollen, dann empfehle ich Ihnen zur Einführung „Die Odyssee des Drehbuchschreibers“ von Christopher Vogler und zur Vertiefung „Die Heldenreise im Film“ von Joachim Hammann. Das Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ von Joseph Campbell – dem „Entdecker“ der Held*innenreise – ist auch interessant. Ich fand es allerdings etwas schwer zu lesen.