Gute Geschichten und Erzählungen folgen bestimmten, vorhandenen und vielfach erprobten Mustern.

Für diese Aussage ernte ich in meinen Seminaren und Workshops oftmals Widerspruch: Wo bleibt die Kreativität, wenn man bereits vorhandenen Mustern folgt? Wo bleibt gar die Kunst? Meine Antwort darauf lautet dann: im Ausfüllen dieser Muster.

Entsprechend der Unterscheidung zwischen „Geschichte“ und „Erzählung“ lassen sich zwei Kategorien von Mustern unterscheiden:

  • Storymuster (als Entwicklungswerkzeuge): Welchen Mustern folgen Geschichten?
  • Erzählmuster (als Erzählwerkzeuge): Welchen Mustern folgen die Erzählungen von Geschichten?

In diesem Text geht es um Storymuster.

Der Versuch, bewusst kein Muster zu bedienen oder ein bestehendes Muster zu durchbrechen, ohne es zu beherrschen, wird nur selten mit einem guten Ergebnis belohnt. Das wäre so, als ob ein*e Musiker*in bewusst falsche Töne spielen würde. Etwas anders zu machen, nur um es anders zu machen, ist kein Erfolgsrezept. Und Kunst entsteht deshalb auch noch lange nicht, sondern eher Murks. Kunst ist zwar die Beherrschung der Konvention plus Abweichung. Die Konvention ist jedoch so komplex, dass es sehr viel Erfahrung im Umgang mit ihr braucht, um berechnen zu können, welche Wirkung eine Abweichung von ihr erzielt. Zum Glück ist sie aber auch so flexibel, dass man sie gar nicht zu durchbrechen braucht, um kreativ sein zu können und gute Storys zu erzählen.

Wie viele Story-Muster gibt es?

Wie viele Muster gibt es? Das hängt davon ab, wen man fragt. Für Joseph Campbell – den „Entdecker“ der Heldenreise – gibt es nur einen: den Monomythos. Aristoteles nennt in seiner Poetik lediglich drei: die Komödie, die Tragödie und das Epos (wobei die Poetik unvollständig überliefert ist und die Komödie nicht behandelt. Die Forschung nimmt an, dass sie in einem nicht enthaltenen zweiten Buch der Poetik dargestellt wird.). Philip Parker beschreibt in seinem Buch Die kreative Matrix zehn, genauso wie Blake Snyder in Save the Cat. Ronald B. Tobias zählt in seinem Buch 20 Masterplots – woraus Geschichten gemacht werden 20 auf. Georges Polti kommt in seinem Buch Les Trente-Six Situations Dramatique auf 36. Die Liste ließe sich noch fortsetzen (siehe hierzu den Artikel „AI-Forscher in Vermont sagen: Es gibt nur 6 Masterplots“ von Alex Lauber).

Im Grunde lässt sich jedes Genre als ein bestimmtes Muster betrachten und ein Sub-Genre als eine Ausdifferenzierung bzw. Variation dieses „Meta-Musters“. Das ist der Vorteil von der Arbeit mit Mustern: Sie lassen sich variieren und miteinander kombinieren, wodurch auf der Basis bestehender Muster neue Muster entstehen können. Das bloße Durchbrechen eines Musters führt hingegen noch nicht automatisch zu einem neuen Muster.

Die Story-Muster, die sich aus den Entwicklungswerkzeugen ergeben, die ich im Storytelling-Handbuch erläutere, beziehen sich auf

  • bestimmte Typen von Hauptprotagonisten wie die ambivalenten Charaktere der erfolgreichen Qualitätsserien der letzten Jahre, deren einfaches Muster in einer Kombination aus Genialität und ungerechtfertigtem Leid besteht
  • bestimmte Figurenkonstellationen wie das Figurendreieck Ermittler*in – Mörder*in – Verdächtige im „Who dunnit“-Krimi, dem Figurendreieck des Szenarios der ersten Liebe (DIRTY DANCING, TITANIC), des Szenarios der geopferten Liebe (DIE BRÜCKEN AM FLUSS, CASABLANCA, GEGEN DIE WAND) oder des Szenarios der Pygmalion-Liebe, das die Beziehung zwischen einem Mentor und einem Schützling erzählt (MY FAIR LADY, DER STADTNEUROTIKER, DER CLUB DER TOTEN DICHTER, ALLES ÜBER EVA)
  • bestimmte Konflikte: die junge Frau, die sich zum ersten Mal verliebt und deshalb mit ihren Eltern Probleme bekommt
  • ähnliche genrebedingte Handlungsverläufe wie in der Romantic Comedy, im Krimi und im Katastrophenfilm
  • bestimmte Charakterentwicklungen: die junge Frau, die sich dank ihrer ersten Liebe von ihren Eltern löst und erwachsen wird; der Schützling, der sich von der Abhängigkeit vom Mentor in die Selbstbestimmung entwickelt; die Liebenden der Romantic Comedy, die einen unterdrückten Persönlichkeitsanteil reintegrieren und erst dadurch ihr Herz für die wahre Liebe öffnen
  • bestimmte kognitive Themen (Drogen, Rassismus, Armut usw.) und universelle Werte wie die erste Liebe, Erwachsenwerden etc.

Auch die Drei-Akt-Struktur und das Modell der emotionalen Reise der Hauptfigur bestehend aus Hoffnung und Katastrophe, Hochpunkt und Tiefpunkt, symbolischem Tod und symbolischer Wiedergeburt sind solche Muster. Diese Story-Muster zu beherrschen, ist eine der Grundvoraussetzungen, um gute Geschichten zu entwickeln. Eine gute Geschichte reicht jedoch noch nicht aus, um eine positive Wirkung bei den Rezipient*innen zu erzielen. Sie muss zudem gut erzählt werden. Auch das Erzählen von Geschichten folgt bestimmten Mustern: den Erzählmustern.