Gute Geschichten und Erzählungen folgen bestimmten vorhandenen und vielfach erprobten Mustern.

Für diese Aussage ernte ich in meinen Seminaren und Workshops oftmals Widerspruch: Wo bleibt die Kreativität, wenn man bereits vorhandenen Mustern folgt? Wo bleibt gar die Kunst? Meine Antwort darauf lautet dann: im Ausfüllen dieser Muster.

Geschichte und Erzählung

Entsprechend der Unterscheidung zwischen „Geschichte“ und „Erzählung“ lassen sich zwei Kategorien von Mustern unterscheiden:

  • Storymuster (als Entwicklungswerkzeuge): Welchen Mustern folgen Geschichten?
  • Erzählmuster (als Erzählwerkzeuge): Welchen Mustern folgen die Erzählungen von Geschichten?

In diesem Text geht es um Erzählmuster.

Der Versuch, bewusst weder ein Story-Muster noch ein Erzähl-Muster zu bedienen oder sie zu durchbrechen, ohne sie zu beherrschen, wird nur selten mit einem guten Ergebnis belohnt. Das wäre so, als ob ein Musiker bewusst falsche Töne spielen würde, um die Musik neu zu erfinden. Etwas anders zu machen, nur um es anders zu machen, ist kein Erfolgsrezept. Und Kunst entsteht deshalb auch noch lange nicht, sondern eher Murks.

Kunst ist zwar die Beherrschung der Konvention plus Abweichung. Die Konvention ist jedoch so komplex, dass es sehr viel Erfahrung im Umgang mit ihr braucht, um berechnen zu können, welche Wirkung eine Abweichung von ihr erzielt. Zum Glück ist sie aber auch so flexibel, dass man sie gar nicht zu durchrechen braucht, um kreativ sein zu können und gute Storys zu erzählen.

Populäre Erzählmuster

Die populärsten strukturellen Erzählmuster lassen sich in drei Basis-Muster unterteilen:

  • das chronologische Erzählmuster
  • a-chronologische Erzählmuster
  • multilineare Erzählmuster

Das chronologische Erzählmuster

Das chronologische Erzählmuster ist das am häufigsten verwendete. Chronologisch zu erzählen bedeutet schlicht und einfach, dass die zeitliche Struktur der Erzählung der Chronologie der Geschichte folgt, salopp formuliert also vorne anfängt und hinten aufhört und dazwischen die Ereignisse in ihrer kausalchronologischen Reihenfolge präsentiert.

Da wir alle erfahrene Rezipient*innen von Geschichten sind, wissen wir in den meisten Fällen, wie eine Geschichte enden und was in ihrem Verlauf passieren wird. Wir wissen nur noch nicht, wie es passieren wird. Chronologisch erzählte Geschichten können also an einer gewissen Vorhersehbarkeit leiden. Um daher den Rezipient*innen ein höheres Maß an kognitiver Beteiligung zu ermöglichen, ist es ratsam, mit bestimmten Erzähltechniken wie Suspense, Vorankündigung oder Ellipsen – also der Auslassung bestimmter Informationen – zu arbeiten.

A-chronologische Erzählmuster

A-chronologische Erzählmuster weichen von der kausalchronologischen Reihenfolge der Ereignisse und Handlungen einer Geschichte ab und springen mehr oder weniger oft in der Zeit hin und her.

Folgende a-chronologische Erzählmuster sind populär:

  • Rahmenerzählung
  • Haken-Eröffnung
  • illustrierender Flashback
  • „Single-Story“-Flashback

Rahmenerzählung und Haken-Eröffnung

Die beiden einfachsten Formen sind die Rahmenerzählung und die Haken-Eröffnung. Die Rahmenerzählung beginnt mit der Gegenwart des Hauptprotagonisten, springt dann zurück an den zeitlichen Anfang seiner Geschichte, erzählt sie kausalchronologisch und endet wieder in der Gegenwart.

In einer Haken-Eröffnung beginnt die Erzählung mit einem Ereignis aus dem weiteren Verlauf der Geschichte, springt dann zurück an den Anfang, erzählt chronologisch weiter, wiederholt das Ereignis der Haken-Eröffnung, wodurch die Struktur kreisförmig wird, und erzählt chronologisch bis zum Ende der Geschichte. Entscheidend für das Funktionieren einer Haken-Eröffnung ist, dass das Ereignis die Hauptprotagonistin oder den Hauptprotagonisten in einer konfliktbeladenen Situation zeigt, die bei den Rezipient*innen Fragen aufwirft: Wer ist diese Person? Wie ist sie in diese Situation gekommen? Und wie wird sie diese Situation lösen können?

Die beabsichtigte Wirkung einer solchen Eröffnung liegt also darin, dass die Rezipient*innen sich mit der Eröffnung einer Erzählung bereits Fragen stellen und dadurch an den „Haken“ genommen werden. Deshalb wird sie so genannt. Besonders geeignete Ereignisse sind beispielsweise der symbolische Tod der Hauptprotagonistin oder des Hauptprotagonisten, der zweite Wendepunkt der Konfliktentwicklung oder die Krise der Hauptprotagonistin oder des Hauptprotagonisten.

Die ZDF-Dokumentation Robert Blum und die Revolution und der Artikel Hol´ mich hier raus von Alexandra Rojkov, die ich Kapitel 6 des Storytelling-Handbuchs dramaturgisch analysiere, eröffnen mit einem Haken.

Illustrierender Flashback und „Single-Story“-Flashback

Neben diesen einfachen a-chronologischen Mustern gibt es noch Flashback-Erzählmuster, die komplexer sind und die Chronologie der Geschichte noch weiter auflösen. Die einfachste Form ist der „illustrierende Flashback“. In ihm springt die Erzählung immer wieder von der Gegenwart in die Vergangenheit, um eine Erklärung zu liefern, ohne die die Rezipient*innen ein Ereignis oder eine Handlung in der Gegenwart nicht verstehen würden, oder um zu illustrieren, was eine Protagonistin oder ein Protagonist in der Gegenwart sagt.

In Krimis beispielsweise wird die Beschreibung der Tat durch den Mörder, nachdem er überführt wurde, oftmals als Flashback erzählt. Ein Grund dafür ist, dass sein Monolog zu langweilig oder dass das Geschehen zu komplex und nicht nachvollziehbar wäre, wenn der Mörder die Tat lediglich im Dialog beschreibt.

Beim Einsatz insbesondere von Flashbacks, die in der Gegenwart etwas verständlich machen sollen, ist jedoch Vorsicht geboten. Denn solche Flashbacks haben in der Regel erklärenden und keinen erzählenden Charakter. Dadurch wird die Dynamik der Gegenwartserzählung ausgebremst und es kann Langeweile entstehen, wenn zu oft von ihnen Gebrauch gemacht wird.

Im „illustrierenden Flashback“-Muster kann zwar beliebig oft von der Gegenwart in die Vergangenheit gewechselt werden, die Erzählung der Vergangenheit stellt jedoch keine eigenständige Erzählebene dar, die eine gesamte und abgeschlossene Geschichte erzählt.

Das Gleiche gilt für das „Single-Story“-Flashback-Erzählmuster. Erzählungen, die diesem Muster folgen, eröffnen mit einem Haken. Danach springen sie zurück an den Anfang der Geschichte, also von dem Zeitpunkt des Hakenereignisses aus gesehen in die Vergangenheit, wechseln im weiteren Verlauf immer wieder auf die Gegenwartsebene und erzählen die Geschichte dort in Form von Flash-Forwards weiter bis die Erzählung der Vergangenheitsebene zum Ereignis der Hakeneröffnung gelangt und die Gegenwartsebene einholt. Danach wird bis zum Ende der Geschichte ohne weitere Wechsel weitererzählt.

Erzählzeit und erzählte Zeit

Der Hauptanteil der Erzählzeit dieses Musters liegt auf der Vergangenheitsebene. Mit „Erzählzeit“ ist die Zeit gemeint, die eine Geschichte braucht, um erzählt zu werden, in konventionellen Spielfilmen beispielsweise 90 Minuten. Hiervon unterscheiden muss man die „erzählte Zeit“, also die Zeit, in der eine Geschichte sich ereignet, ein Tag, eine Woche, ein Sommer, ein ganzes Leben etc. In Spielfilmen wie LOLA RENNT, NICHT AUFLEGEN!, COCKTAIL FÜR EINE LEICHE und VICTORIA sind die Erzählzeit und die erzählte Zeit identisch, das heißt, die Erzählung dauert genau so lang, wie die Geschichte braucht, um sich zu ereignen. Man spricht hierbei auch von Echtzeit-Erzählung.

Multiplot-Erzählmuster

Das „Single-Story“-Flashback-Erzählmuster erzählt eine Geschichte mit einer Hauptfigur – die ein Single- oder Plural-Protagonist sein kann -, mit einem dramatischen Ziel und einem zentralen Konflikt in einem bestimmten Erzählmuster auf zwei oder mehreren Zeitebenen.

“Multi-Story“-Flashback

Im Unterschied dazu erzählt das „Multi-Story“-Flashback-Erzählmuster auf jeder Zeitebene eine eigene Geschichte mit jeweils eigenen Hauptprotagonistinnen und -protagonisten, die ihre eigenen dramatischen Ziele verfolgen, von unterschiedlichen Bedürfnissen motiviert werden und ihre je eigenen Konflikte lösen müssen. Es handelt sich hierbei also um Multiplot-Filme mit Multi-Protagonisten.

Die meisten Geschichten, die auf diesem Muster aufbauen, erzählen auf einer Gegenwartsebene und einer Vergangenheitsebene. Prinzipiell sind jedoch beliebig viele Vergangenheitsebenen denkbar, wobei ab drei Ebenen die Komplexität die Grenze der Nachvollziehbarkeit erreicht. DAS ENDE EINER AFFÄRE beispielsweise erzählt auf insgesamt drei Zeitebenen. CLOUD ATLAS und INCEPTION erzählen auf noch mehr Ebenen. Beim ersten Schauen sind sie in ihrer Komplexität kaum ganz zu verstehen.

Klassiker dieses Erzählmusters sind die Spielfilme CITIZEN KANE und DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN. Kennzeichnend für beide ist, dass auf der strukturellen Ebene der Höhepunkt der Vergangenheitsgeschichte das auslösende Ereignis der Gegenwartsgeschichte ist und dass der Hauptprotagonist der Gegenwartsebene eine Ermittlerfigur ist, also eine Figur, die etwas herausfinden will und deshalb Fragen stellt.

Der Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit wird durch die Antworten motiviert, die sie erhält: Sobald ein Befragter antwortet, wechselt die Erzählung von der Gegenwarts- auf die Vergangenheitsebene und erzählt dort die Antwort. Am Ende der Antwort wechselt sie wieder auf die Gegenwartsebene, die Ermittlerfigur stellt ihre nächste Frage und mit der Antwort darauf findet ein erneuter Wechsel von der Gegenwart in die Vergangenheit statt. Dadurch lässt sich dieses Muster wie eine Wäscheleine vorstellen, mit der Leine als Gegenwartsebene und den darauf aufgehängten Wäschetücken als Vergangenheitsebene. Der Schwerpunkt der Erzählzeit liegt in der Regel auf der Geschichte in der Vergangenheit.

Zwei weitere typische Kennzeichen dieses Musters sind, dass die Erzählung „in medias res“ mit dem Höhepunkt der Geschichte auf der Vergangenheitsebene beginnt und mit einer ironischen Wendung auf der Gegenwartsebene abschließt. In CITIZEN KANE beispielsweise sehen wir in der Eröffnung wie der Hauptprotagonist der Vergangenheitsebene, der berühmte und schwerreiche Zeitungsmogul Charles Forster Kane stirbt. Das ist das Ende der Vergangenheitsgeschichte, das also sogleich mit dem Beginn des Films vorweggenommen wird.

Wenn wir wissen, wie ein Film endet, geht natürlich einiges an kognitiver Beteiligung verloren. Ohne ironische Wendung am Ende der Gegenwartsebene würde der Film daher unbefriedigend sein. Diese ironische Wendung beantwortet die dramatische Frage auf der Gegenwartsebene. Sie ergibt sich daraus, dass der Hauptprotagonist der Gegenwart, der Journalist Thompson, sein dramatisches Ziel –  herauszufinden, was Kane mit seinem letzten Wort „Rosebud“ gemeint hat – nicht erreicht, statt seiner jedoch das Publikum die Auflösung erfährt: „Rosebud“ ist die Marke eines Schlittens, den Kane als Junge hatte, und steht für die einzige wirklich glückliche Zeit in seinem Leben.

DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN ist einerseits ein ganz anderer Film, der in einer anderen Zeit mit anderen Protagonistentypen und in einem anderen Kontext spielt. Im Hinblick auf das Erzählmuster ist er jedoch eine 1:1-Kopie von CITIZEN KANE.

Sequentielles Erzählmuster

Nicht alle Geschichten, die auf mehreren Zeitebenen spielen, folgen automatisch einem Flashback-Muster. Der Spielfilm THE HOURS beispielsweise erzählt auf drei Zeitebenen jeweils eine Geschichte, die unabhängig voneinander funktionieren, von denen zwei am Ende allerdings zusammengeführt werden. Das Erzählmuster, das diesem Film zugrunde liegt, wird als „sequentieller Multiplot“ bezeichnet.

Kennzeichnend für dieses Muster ist, dass mehrere Geschichten erzählt werden und die Erzählung zwischen ihnen hin- und herspringt. Neben THE HOURS funktionieren beispielsweise die Spielfilme 21 GRAMM und TRAFFIC nach diesem Muster.

Dieses Muster bezeichnet man auch als Zopfdramaturgie, wobei der Zopf nicht gleichmäßig geflochten sein muss. Das heißt, die Wechsel zwischen den Geschichten können, müssen aber keinem bestimmten Muster folgen, also formal motiviert sein. Meistens sind sie inhaltlich motiviert und finden statt, sobald in einer Geschichte eine Sequenz beendet ist oder eine neue Frage aufgeworfen wird. Im letzten Fall spricht man von einem Cliffhanger, wie er aus dem Ende einer Daily Soap-Folge bekannt ist.

Ein Beispiel, in dem die Wechsel einem bestimmten Muster folgen, ist der Spielfilm BABEL. Er erzählt vier Geschichten und die sequentiellen Wechsel folgen strikt dem Muster A – B – C – D – A – B – C – D – A – B – C – D usw. Erst am Ende wird dieses Muster aufgebrochen.

In einem sequentiell erzählten Multiplot stellt sich immer die Frage, in welcher Reihenfolge die Geschichten beendet werden, also die Auflösung ihrer Konflikte erzählt wird. Prinzipiell sollte der schwächste Konflikt zuerst, der stärkste zuletzt aufgelöst werden.

Konflikttiefe

Aber welcher Konflikt ist der schwächste und welcher der stärkste? Eine Möglichkeit, das zu entscheiden, ist die Fallhöhe = Motivation der Hauptprotagonistin oder des Hauptprotagonisten, also der universelle Wert: Je größer die Fallhöhe umso größer der Konflikt. In einem Multiplot über das Thema Fasten könnte eine Geschichte von einer Hauptprotagonistin erzählen, die durch Fasten eine chronische Krankheit heilen will. Der universelle Wert, der auf dem Spiel steht, und damit ihre Fallhöhe ist Gesundheit. In einer anderen Geschichte könnte ein Protagonist abnehmen wollen, um sich besser zu fühlen. Der universelle Wert wäre hier Selbstwert bzw. Sicherheit. In einer dritten Geschichte könnte ein Protagonist mittels Fasten abnehmen wollen, um seine Beziehung zu retten, weil er glaubt, dass seine Partnerin oder sein Partner ihn verlassen wird, wenn er weiter übergewichtig bleibt. Der universelle Wert wäre in diesem Fall Gemeinschaft.

Abhängig von der Schwere der chronischen Krankheit könnte der Protagonist der ersten Geschichte die größte Fallhöhe haben. Die universellen Werte Gesundheit, Gemeinschaft und Selbstwert stellen allerdings alle eine große Fallhöhe dar, da sie grundlegend die Qualität unseres Lebens beeinflussen. Sind die Fallhöhen als ungefähr gleichwertig anzusehen, kann die Entscheidung über die Wichtigkeit einer Geschichte anhand der Hauptprotagonistin oder des Hauptprotagonisten getroffen werden: Welcher Person ist die Interessanteste, hat das größte Identifikationspotenzial, ist am kameratauglichsten etc.?

Episodisches Erzählmuster

Von einem „episodischen Multiplot“ spricht man, wenn die Erzählung die einzelnen Geschichten jeweils abgeschlossen und am Stück nacheinander erzählt wie beispielsweise die Spielfilme AMORES PERROS und AUF DER ANDEREN SEITE.

In den meisten Fällen erzählen sequentielle und episodische Multiplots drei Geschichten, doch auch hier sind prinzipiell beliebig viele Geschichten denkbar. So erzählen die Spielfilme L.A. CRASH, CLOUD ATLAS und INCEPTION fünf bis acht Geschichten.

Geschlossenheit und Bedeutung

Je weniger Verknüpfungen es zwischen den einzelnen Geschichten gibt, desto größer ist die Gefahr, dass die Gesamterzählung keine Geschlossenheit aufweist – kein „Ganzes“ darstellt – und es umso schwieriger ist es, ihr über eine Aussage Bedeutung zu verleihen. Deshalb sind folgende Fragen wichtig:

  • Was haben die Geschichten miteinander zu tun?
  • Warum werden ausgerechnet sie in einem Film (oder Roman etc.) gemeinsam – sequentiell oder episodisch – erzählt und keine anderen?
  • Wie lassen sie sich miteinander verbinden, damit sie wie ein Ganzes wirken?

Folgende Möglichkeiten gibt es, die Einzelgeschichten miteinander zu verbinden und Geschlossenheit und Bedeutung herzustellen:

Gegenseitige Beeinflussung

Die offensichtlichste Verknüpfung ergibt sich aus einer gegenseitigen Beeinflussung. Wenn sich ein Ereignis der einen Geschichte auf eine andere auswirkt, können die Geschichten ohneeinander nicht funktionieren und müssen deshalb erzählt werden.

21 GRAMM ist ein Beispiel hierfür: Der Film erzählt die Geschichten von drei Hauptprotagonisten, die sich wechselseitig bedingen und nur gemeinsam Geschlossenheit und Bedeutung erzielen: Der Hauptprotagonist der einen Geschichte – Jack – überfährt den Ehemann die beiden Töchter von Cristina – der Hauptprotagonistin der zweiten Geschichte -, die einer Organspende zustimmt. Das Herz ihres verstorbenen Mannes bekommt der schwerkranke Hauptprotagonist der dritten Geschichte – Paul -, der daraufhin wissen will, wem er sein Leben zu verdanken hat. Er findet es heraus, nimmt Kontakt zu Cristina auf und verliebt sich in sie. Cristina, die unter dem Verlust ihres Ehemanns und ihrer beiden Töchter leidet, will sich an Jack rächen und fordert Paul auf, ihn mit ihr gemeinsam zu ermorden.

Gemeinsames kognitives Thema

Darüber hinaus lässt sich eine Verbindung über ein gemeinsames kognitives Thema herstellen: TRAFFIC erzählt von dem Thema Drogen. In einer Geschichte will ein Hauptprotagonist auf politischer Ebene den Drogenhandel bekämpfen und zugleich seine Tochter aus der Drogensucht retten; in der zweiten will eine Frau ihren Mann – einen Großdealer – aus dem Gefängnis befreien; in der dritten will ein Polizist ein Drogenkartell zerstören.

Die drei Geschichten laufen weitestgehend parallel, ohne dass sie sich beeinflussen. Lediglich ein Ereignis in einer Geschichte wirkt sich auf eine andere aus. Außerdem taucht zweimal eine Figur der einen Geschichte in einer anderen auf, allerdings nur am Rande und ohne Einfluss auf diese andere zu haben. Alle drei Geschichten erzählen jeweils chronologisch von jeweils einem Hauptprotagonisten mit je eigenem dramatischen Ziel und eigener Motivation und einem eigenen Konflikt, der nach dem Drei-Akt-Muster abläuft.

In L.A. CRASH erzählen die einzelnen Geschichten von verschiedenen Formen des Rassismus. In THE HOURS wird die Hauptverknüpfung der drei Geschichten durch Virginia Woolfs Roman „Mrs. Dalloway“ hergestellt.

Ein gemeinsames kognitives Thema ist einer der Hauptgründe für ein Multiplot-Erzählmuster: Es gibt einem die Möglichkeit, dieses Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Die dramatischen Ziele der Hauptprotagonisten beziehen sich dabei alle auf dieses Thema, ihre Motivationen und damit also die universellen Werte, die sie realisieren wollen, sind in der Regel unterschiedlich.

Gemeinsamer Höhepunkt

Eine weitere Möglichkeit, die Geschichten miteinander zu verbinden, ist, sie in einen gemeinsamen Höhepunkt zusammen zu führen und dort die Einzelkonflikte auf einmal aufzulösen, wie beispielsweise in 21 GRAMM. Auf dem Weg dahin können die einzelnen Geschichten sich gegenseitig beeinflussen, müssen aber nicht.

Gemeinsames zentrales Ereignis

Auch ein gemeinsames zentrales Ereignis kann die Verbindung zwischen den Einzelgeschichten herstellen wie beispielsweise ein Verkehrsunfall in AMORES PERROS, der in einer Geschichte den Höhepunkt darstellt und in den beiden anderen das auslösende Ereignis bzw. den ersten Wendepunkt.

Daneben können die einzelnen Geschichten auch in einem gemeinsamen Ereignis enden wie beispielsweise einer Hochzeit in VERBRECHEN UND ANDERE KLEINIGKEITEN, einem Frosch-Regen in MAGNOLIA oder einem Erdbeben in SHORT CUTS. Als einzige Verknüpfung der Geschichten innerhalb der Erzählung ist das jedoch eine eher schwache und möglicherweise konstruiert wirkende Möglichkeit, um eine Geschlossenheit der Gesamterzählung zu erzeugen. So wird beispielsweise an MAGNOLIA oftmals die vermeintlich unbefriedigende Auflösung kritisiert. Am Ende gibt es zwar ein gemeinsames Ereignis, von dem alle Figuren betroffen sind, aber es reicht nicht aus, um die Geschichten befriedigend miteinander zu verknüpfen und dem Film als Ganzem eine Bedeutung zu verleihen. Dadurch drängt sich die Frage auf: Warum werden diese Geschichten gemeinsam in einem Film erzählt? Was will der Film?

Verknüpfung über die Figuren

Die Einzelgeschichten können auch über die Figuren miteinander verknüpft werden, indem eine Figur einer Geschichte in einer anderen Geschichte auftaucht und dort etwas bewirkt. In L.A. CRASH beispielsweise demütigt ein rassistischer Polizist einen schwarzen Regisseur und dessen Frau und löst damit eine Ehekrise aus. Im weiteren Verlauf der Geschichte kommt er zu einem schweren Verkehrsunfall, in dem die Ehefrau des Regisseurs in ihrem Auto eingeklemmt ist, das zu explodieren droht. Der rassistische Polizist begibt sich in Lebensgefahr, rettet die Frau im letzten Moment und verändert sich dadurch. Der Regisseur wird parallel dazu von zwei Jugendlichen überfallen, die sein Auto klauen wollen. Als die Polizei kommt, flieht er mit einem der Jugendlichen, der sich weigert, auszusteigen. Die Polizei stoppt ihn, er wird jedoch von dem Kollegen des rassistischen Polizisten laufen gelassen, der sich nach dessen demütigender Aktion gegen den Regisseur einem anderen Partner zuteilen ließ, und den Regisseur erkennt. Auf dem Nachhauseweg nimmt dieser Polizist den zweiten Jugendlichen, der beim Eintreffen der Polizei zu Fuß geflüchtet ist, in seinem Auto mit und erschießt ihn, als er befürchtet, dass er ihn überfallen will. Dieser Jugendliche ist der kleine Bruder eines weiteren Polizisten, der in der Eröffnung des Films zum Fundort einer Leiche gerufen wird, die sich am Ende des Films als eben jener kleine Bruder erweist. Alle Figuren – der Regisseur und seine Frau, der rassistische Polizist und sein Kollege, die beiden autoklauenden Jugendlichen und der Polizistenbruder eines der Jugendlichen – haben ihre jeweils eigene Geschichte, die über die eben skizzierten Ereignisse miteinander verknüpft sind.

Ort und soziale Schicht

Die Geschichten können außerdem miteinander verbunden werden, indem die Figuren beispielsweise im selben Stadtteil oder derselben Straße arbeiten und leben, einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung angehören oder Familienmitglieder sind und dadurch oftmals auch zufällig in den anderen Geschichten auftauchen können, wie beispielsweise in dem Spielfilm STADT DER HOFFNUNG.

Zeit

Auch die Zeit kann ein verbindendes Element darstellen: Die Geschichten finden in einem sehr engen Zeitrahmen statt, wie beispielsweise an einem Tag oder einer Nacht oder in direkter räumlicher Nähe wie in 11:14, L.A. CRASH und GO.

Wer sich intensiver mit den hier beschriebenen Erzählmustern beschäftigen will, dem sei das Buch SCREENWRITING UPDATED (2001) von Linda Aronson empfohlen.

Erzählmuster im Storytelling

Im journalistischen und dokumentarischen Storytelling muss man zwischen

  • Storyebene und
  • Kontextebene

unterscheiden. Die Kontextebene ist die Ebene, die Hintergrundinformationen, Experten- und Erfahrungswissen über das kognitive Thema, den universellen Wert, den historischen Kontext etc. vermittelt. Die Funktion der Storyebene ist es, diese Informationen mittels einer oder mehrerer Storys zu konkretisieren, zu vereinfachen, zu veranschaulichen, lebendig und emotional und damit besser nachvollziehbar und erinnerbarer zu machen, sie also gewissermaßen zu „beweisen“.

Entsprechend dieser Ebenen lassen sich zwei Arten von Protagonistinnen und Protagonisten unterscheiden: Protagonistinnen und Protagonisten der Kontextebene, also beispielsweise Fachexpertinnen und -experten oder Augenzeuginnen und -zeugen, die der Vermittlung von Hintergrundinformationen oder Erfahrungswissen dienen, und Protagonistinnen und Protagonisten der Storyebene, also reale Personen, die an der Entstehung, Austragung und Auflösung des zentralen Konflikts der Story mitwirken. Protagonistinnen und Protagonisten der Kontextebene können auch Protagonistinnen und Protagonisten der Storyebene sein. So ist beispielsweise in der Reportage „Herr Eke möchte bleiben“ der ZDF-Reihe „37°“ der Anwalt des Hauptprotagonisten in seiner Funktion als dessen Anwalt Protagonist der Storyebene, zugleich liefert er als Protagonist der Kontextebene Hintergrundwissen über die deutsche Ausländer- und Asylgesetzgebung (siehe auch Seite 65 in Kapitel 3 des Storytelling-Handbuchs).

Auch das Verhältnis zwischen Story- und Kontextebene lässt sich wie eine Wäscheleine mit daran aufgehängter Wäsche vorstellen. Die Leine ist die Ebene, mit der die Darstellung der Inhalte eröffnet wird, die Wäsche ist entsprechend die andere Ebene: Findet der Einstieg über die Story statt, dann ist die Storyebene die Leine und die Informationseinheiten der Kontextebene die Wäsche, die an dieser Leine aufgehängt sind. Wird mit der Kontextebene eröffnet, dann entspricht sie der Wäscheleine, an die die einzelnen Elemente der Story / Storys aufgehängt sind.

Induktive und deduktive Wechsel

Die entscheidende Frage ist auch hier die nach dem Wechsel zwischen den Ebenen: Wodurch ist der Wechsel von einer Ebene zur anderen motiviert? Ist die Story die Wäscheleine, dann handelt es sich um „induktive“ Wechsel, also um Wechsel vom Konkreten ins Abstrakte: Die Story erzählt etwas bestimmtes, die Kontextebene liefert Hintergründe und Erklärungen. Wichtig auf der Storyebene ist, dass der Wechsel zu einem Zeitpunkt stattfindet, in dem die Rezipient*innen wissen wollen, wie die Story weitergeht – Stichwort Cliffhanger“ -, das heißt, es muss mindestens noch eine Frage offen sein. Dadurch wird ihr Interesse aufrechterhalten.

Ist die Kontextebene die Wäscheleine, dann ist der Wechsel „deduktiv“ motiviert, die Darstellung der Inhalte geht also vom Allgemeinen zum Besonderen: Eine Expertin oder ein Experte liefert abstrakte Informationen, die Story veranschaulicht sie anhand eines konkreten Falls.

Dieses Vorgehen birgt eine Gefahr: Die Story konkretisiert zwar die Informationen, liefert aber nicht unbedingt etwas Neues. Dadurch kann die Storyebene die Dynamik eines Inhalts bremsen und im schlimmsten Fall sogar Langeweile verursachen, da sich die Frage „Warum ist das so?“, die die Expertin oder der Experte in der ersten Variante beantwortet, nicht mehr stellt. Deshalb ist es ratsam, mit der Storyebene die Darstellung eines Inhalts zu eröffnen, da die Hintergründe, die eine Expertin oder ein Experte erläutert, einen Wissensmehrwert liefern. Der Wechsel zwischen Story- und Kontextebene sollte genau dann stattfinden, wenn die Kontextebene einen Wissensmehrwert zur Story liefern kann.

Die Storyebene kann mit einem der eben dargestellten Erzählmuster dargestellt werden: Besteht sie aus einer einzigen Story mit einem Hauptprotagonisten, kann diese chronologisch, als Rahmenerzählung, „in medias res“ oder mittels „Single-Story“-Flashback erzählt werden. Handelt es sich um mehrere Storys mit mehreren Hauptprotagonisten – also um einen Multiplot – können sie sequentiell, episodisch oder mittels „Multi-Story“-Flashback erzählt werden.

In einem sequentiellen Multiplot ist es sinnvoll, in der Eröffnung zunächst die Hauptprotagonisten der einzelnen Storys vorzustellen, um das kognitive Thema und die jeweiligen universellen Werte zu etablieren. Danach wechselt der Beitrag wieder zu Protagonist 1 plus Kontextebene, zu Protagonist 2 plus Kontextebene, zu Protagonist 3 plus Kontextebene usw.

Das ist ein allgemeines Grundmuster des sequentiellen Erzählens auf der Story-Ebene, das viele Variationsmöglichkeiten zulässt. So muss beispielsweise nicht immer der Wechsel zwischen den Storys in der strikt gleichen Reihenfolge stattfinden und nicht jede Sequenz einer Story muss von einer Informationseinheit auf der Kontextebene ergänzt werden (was aber im Hinblick auf den Rhythmus der Darstellung eines Inhalts sinnvoll ist).

Der optimale strukturelle Aufbau hängt von vielen Faktoren ab, vom Thema, den Protagonisten, den Konfliktverläufen, den zu vermittelnden Informationen der Kontextebene etc. In der Arbeit mit Bewegtbildern wird die Erzählstruktur ohnehin erst im Schnitt endgültig festgelegt. Eine allzu detaillierte Planung in der Konzeption der Inhalte ist hier eher nachteilig, weil sie die Flexibilität einschränkt.

Wird auf der Storyebene ein episodischer Multiplot erzählt, ist es auch hier sinnvoll, in der Eröffnung zunächst alle Storys und Hauptprotagonisten kurz einzuführen und danach erst mit dem episodischen Erzählen zu beginnen. Dadurch wissen die Rezipient*innen, wie viele Geschichten es gibt und können sich im weiteren Verlauf besser orientieren. In den Einzelepisoden kann wie oben beschreiben sequentiell zwischen Storyebene und Kontextebene hin- und hergewechselt werden.

Auch hier stellt sich die Frage, in welcher Reihenfolge die Storys erzählt werden sollen. Die Antwort ist die gleiche wie im sequentiellen Muster: der schwächste Konflikt bzw. die geringste Fallhöhe zuerst, der stärkste bzw. die größte zuletzt. Dadurch wird eine Steigerung erzielt, die das Interesse der Rezipient*innen besser aufrechterhalten kann, als wenn der stärkste Konflikt gleich am Anfang verschossen wird.

Ob das sequentielle oder das episodische Erzählmuster auf der Storyebene das bessere ist, lässt sich pauschal nicht sagen. Beide haben ihren Reiz. Das episodische ist im non-fiktionalen Arbeiten das seltenere, weshalb es den Rezeptionsgewohnheiten der Rezipient*innen zuwiderlaufen und für Irritation sorgen könnte.
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