Im journalistischen Storytelling lassen sich zwei grundlegende Kategorien unterscheiden: explizites und implizites Storytelling.

„Explizites Storytelling“ meint journalistische Inhalte, die bewusst als Story gestaltet, also erzählt werden (siehe den Artikel Hol´ mich hier raus und die TV-Dokumantation Robert Blum und die Revolution).

„Implizites Storytelling“ bezeichnet  journalistische Inhalte, die nicht als Story gestaltet sind, aber dennoch implizit bestimmte Storys erzählen, deren Botschaften vermitteln und damit eine bestimmte Wirkung erzielen.

Der Tagesthemen-Beitrag über ein vereiteltes Attentat in Belgien ist ein Beispiel für implizites Storytelling:

Caren Miosga moderiert folgendermaßen an:

„Ein Meer aus schwarz gelb rot. Wenn die Belgier noch etwas zusammenhält in diesem vom Terror gezeichneten Land, dann ist es der Fußball. Doch genau diese Begeisterung sollte nun möglicherweise [Hervorhebungen von mir] auch noch zerstört werden. Denn die belgische Polizei hat Terrorverdächtige festgenommen, die einen Anschlag geplant haben sollen, nicht in Frankreich, sondern in Belgien. Die Fans sollte es nach Medienberichten treffen, heute Nachmittag während des Spiels Belgien gegen Irland.“

In dem Bericht von Bettina Scharkus heißt es dann zu Bildern einer gut besuchten Einkaufsstraße und von Fußballfans eines Public Viewings, das von schwer bewaffneten Polizisten und Soldaten bewacht wird:

„Fußball und Shopping, Lieblingsbeschäftigung vieler Brüsseler an einem Samstagnachmittag. Belgischen Medien berichten, Terroristen hätten es gezielt auf Einkaufscentren und Fanmeilen abgesehen, um Angst und Schrecken während der Europameisterschaft zu verbreiten. Dies bestätigen die Behörden nicht. Vieles ist noch unklar, doch von den zwölf in der Nacht Festgenommenen sitzen jetzt drei in Haft, andere wurden freigelassen, es fehlten offenbar handfeste Beweise. Doch die Bedrohung – so die Regierung – die war unmittelbar.“

Der belgische Premierminister auf einer Pressekonferenz: „Die Sicherheitsdienste sind weiterhin aufgerufen extrem wachsam zu sein. Wir bewerten die Situation jede Stunde neu und wir werden sehr entschieden ankämpfen gegen Extremismus und Terrorismus.“

Zu Archivbilder der Attentäter im Brüsseler Flughafen und von Spezialeinheiten, die mit gezückten Waffen auf das Haus zielen, in dem einer der Attentäter festgenommen wurde, heißt es weiter:

„Selbstmordattentäter hatten vor knapp drei Monaten in Brüssel 32 Menschen in den Tod gerissen. Seitdem gibt es immer wieder Antiterroreinsätze in dem kleinen Land. Von Normalität ist Belgien weit entfernt. Nicht erst seit der Europameisterschaft sind die Sicherheitskräfte in erhöhter Alarmbereitschaft. Die belgische Nationalmannschaft hat gut gespielt und gewonnen. Das ist immerhin eine gute Nachricht für die Brüsseler Bürger heute.“

Ende des Berichts.

Fakten und Spekulationen

Welche Nachricht wird hier vermeldet? Was sind die gesicherten Fakten? Fakt ist, dass es eine Bedrohungssituation gibt. Die ist jedoch Alltag in Brüssel. Fakt ist auch, dass Selbstmordattentäter vor drei Monaten 32 Menschen in Brüssel getötet haben und es immer wieder Antiterroreinsätze gibt. Das liegt jedoch in der Vergangenheit und hat mit dem Ereignis, über das in dieser Nachricht berichtet wird, nicht unmittelbar etwas zu tun. Fakt ist außerdem, dass die Polizei zwölf Männer festgenommen und neun davon wieder frei gelassen hat. Der Bericht spricht jedoch von drei Männern in Haft. Alleine schon dieses Detail erzeugt eine unterschiedliche Wirkung: „Drei Männer in Haft“ unterstützt ein Bedrohungsszenario, „Neun Männer wurden freigelassen, weil es keine Beweise gibt“ unterstützt dieses Szenario nicht. Und Fakt ist auch, dass die Behörden keine Gründe für die Verhaftungen nennen.

Die Quelle dieses Berichts sind andere Medienberichte, die genauso wenig Konkretes wissen. Und genau das ist ein Problem: Medien zitieren sich gegenseitig und agieren damit zirkulär. Problematisch wird das, wenn es wie in diesem Fall keinerlei Anhaltspunkte gibt, dass ein Attentat auf eine Einkaufsstraße oder ein Public Viewing tatsächlich kurz bevorstand. Hätte es sie gegeben, hätte der Bericht sie sicher genannt.

Obwohl es keine Anhaltspunkte gibt, erzeugen die Anmoderation und der Bericht das Horrorszenario eines Attentats auf Shoppende und Fußballfans.

Implizites Storytelling des IS und der AfD

Aus Sicht des thema- und werteorientierten Storytellings sind das inhaltliche Thema des Berichts „Islamismus“, sein emotionales Thema „Sicherheit und Unversehrtheit“, seine zentrale Frage „Wie sicher sind wir? Müssen wir Angst haben?“ und seine Aussage „Wir können uns zu keiner Zeit und nirgends sicher sein. Wir müssen also Angst haben.“ Und genau das ist die Basis einer der zentralen Storys des IS.

Sein Ziel ist, dass die Menschen in den westlichen Gesellschaften Angst haben und sich deshalb in ihrer Freiheit einschränken, also beispielsweise gut besuchte Einkaufsstraßen, Public Viewings, Weihnachtsmärkte und so weiter meiden. Die Nachricht betreibt damit also das Storytelling des Islamischen Staates, der noch nicht einmal mehr ein Attentat begehen muss, um seine Story zu verbreiten und ihre Wirkung zu erzielen.

Zugleich betreibt diese Nachricht aber auch das Storytelling antiislamischer und islamophober Kräfte wie der AfD. Denn auch ihnen geht es darum, Ängste zu schüren. Ängste vor dem Islam und vor Attentaten, die in seinem Namen begangen werden. Darauf bauen ihre Anti-Islam-Storys auf: „Der Islam ist gewalttätig und will uns vernichten.“ Die Lösungen, die sie für den Konflikt dieser Storys vorschlagen, führen dazu, dass Muslime und Muslimas unter Generalverdacht gestellt und ausgegrenzt werden: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“

Damit betreiben diese Kräfte wiederum das Storytelling des IS und unterstützen ihn bei der Verwirklichung seiner Ziele. Denn der IS will, dass Muslime und Muslimas in den westlichen Gesellschaften ausgegrenzt und diskriminiert werden, um sie auf seine Seite zu ziehen. Das ist eine weitere seiner zentralen Storys im Kampf gegen den Westen: „Seht Ihr, Ihr werdet andauernd ausgegrenzt, diskriminiert und gedemütigt. Damit wird nicht nur eure Ehre, sondern auch der Islam beschmutzt. Wehrt euch endlich. Wenn Ihr zu uns kommt und mit uns gegen eure Unterdrücker kämpft, seid Ihr auf der Seite der Sieger, euer Leben bekommt wieder Sinn, eure Ehre wird wieder hergestellt und Ihr befreit euch.“

Islamistisches und antiislamisches Storytelling brauchen sich gegenseitig und verstärken sich gegenseitig. Und sie brauchen Medien, die ihre Storys weitererzählen. Leider gibt es immer wieder journalistische Beiträge, die ihnen ohne Grund diesen Gefallen tun.