Im journalistischen Storytelling lassen sich zwei grundlegende Kategorien unterscheiden: explizites und implizites Storytelling.

„Explizites Storytelling“ meint journalistische Inhalte, die bewusst als Story gestaltet, also erzählt werden.

„Implizites Storytelling“ bezeichnet journalistische Inhalte, die nicht als Story gestaltet sind, aber dennoch implizit bestimmte Storys erzählen, deren Botschaften vermitteln und damit eine bestimmte Wirkung erzielen (siehe auch Implizites Storytelling: Tagestehemen und Angst-Story „Digitale Medien“).

Alexandra Rojkovs Artikel Hol´ mich hier raus ist ein Beispiel für explizites Storytelling. Er ist 2014 im »jetzt«-Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienen und war für den Axel-Springer-Preis für junge Journalisten 2015 nominiert.

Ebenfalls 2015 erschien im Tagesspiegel der Artikel Glaubst du, dass du mir helfen kannst, in dem Alexandra Rojkov gemeinsam mit Jan Ludwig die Story von Hol´ mich hier raus weitererzählt. Glaubst du, dass du mir helfen kannst ist ausgezeichnet mit dem CNN Journalist Award.

Zusammenfassung der dramaturgischen Analyse

Thema- und werteorientierte Dimension

  • kognitives Thema: Flucht
  • emotionales Thema: Verantwortung / Leben
  • zentrale Frage: Sind wir verantwortlich für Menschen, deren Leben bedroht ist, selbst wenn wir sie kaum oder gar nicht kennen?
  • Aussage: Ja, Mitmenschlichkeit und Solidarität gebieten es, Menschen in Not zu helfen.

 Protagonistenzentrierte Dimension

  • Hauptfigur: Tom
  • dramatisches Ziel: Nabils Flucht nach Deutschland zu ermöglichen.
  • dramatische Frage: Wird es Tom gelingen, Nabil nach Deutschland zu holen?
  • Motivation / Bedürfnis: Verantwortung / Leben
  • größte Angst: Scheitern / Nabils Tod
  • antagonistische Kräfte: Behörden, Asyl-Gesetzgebung, Tom selbst
  • Tiefpunkt: symbolischer Tod: Tom will aufgeben, weil er mit seinen Kräften am Ende ist. Symbolische Wiedergeburt: Er schämt sich für die Gedanken, was ihn die Not im Nahen Osten angeht und warum er sich davon sein Leben trüben lässt.
  • Charakterentwicklung: Tom erlangt Klarheit darüber, was er nach seinem Studium machen will.

 Konflikt- und handlungsbasierte Dimension

  • Erzählabschnitt: Tom führt ein ganz normales Studentenleben, er wohnt in einer WG, kellnert in einer Bar, hat eine Freundin und viele gute Freunde, seine Leidenschaft ist Reisen.
  • auslösendes Ereignis: Tom erhält eine Facebook-Nachricht von Nabil, in der er ihn bittet, ihm bei der Flucht nach Deutschland zu helfen.
  • Erzählabschnitt: Tom zweifelt zunächst, ob er das schaffen kann und ob er diese Verantwortung übernehmen will.
  • Wendepunkt: Tom fasst den Entschluss, Nabil zu helfen.
  • Erzählabschnitt (Katstrophe): Tom engagiert sich, kommt jedoch nicht wirklich voran: Die Antifa kennt sich nicht aus; vom Ausländeramt bekommt er widersprüchliche Informationen; er wird von einer Zuständigkeit zur nächsten geschickt; er bekommt patzige Antworten; er findet keinen Praktikumsplatz für Nabil in einer Klinik. Er erzielt aber auch kleine Erfolge: Er findet heraus, welche Voraussetzungen Nabil erfüllen muss, um nach Deutschland kommen zu dürfen. Trotzdem kommt er seinem Ziel nicht entscheidend näher. Er investiert immer mehr Zeit; vernachlässigt immer mehr sein Studium und sein soziales Leben; schafft es nicht mehr, Distanz zu halten bis er sie ganz verliert; sein Körper rebelliert; er ist erschöpft.
  • zentraler Punkt: Tiefpunkt: Tom will aufgeben („symbolischer Tod“), schämt sich aber für solche Gedanken und macht doch weiter („symbolische Wiedergeburt“).
  • Erzählabschnitt (Hoffnung): Ab jetzt läuft es gut und immer besser. Tom findet ein Krankenhaus, das bereit ist, Nabil als Hospitanten aufzunehmen; er organisiert einen Sprachkurs; seine Mutter unterschreibt eine Verpflichtungserklärung und wird Nabil bei sich aufnehmen; er beginnt, seine Bachelor-Arbeit zu schreiben. Allerdings weiß er noch nicht, was er nach dem Studium machen wird, ob er arbeiten oder weiter studieren soll. Auch bei Nabil läuft es gut: Er besteht das Motivationsgespräch in der deutschen Botschaft in Beirut und macht sich auf den Weg nach Homs, um seine Sachen zu holen.
  • Wendepunkt: Tom hat alles erledigt, was in seiner Macht steht (Hochpunkt). Jetzt muss Nabil nur noch nach Deutschland kommen: Alles scheint erreicht. Doch dann bricht der Kontakt zu Nabil ab (Wendung).
  • Erzählabschnitt: Tom geht es schlecht. Er schreibt zwar an seiner Bachelor-Arbeit weiter, kann sich aber nicht mehr konzentrieren. Er bricht zusammen, weint, trauert. Doch dann meldet sich Nabil wieder. Er wurde willkürlich festgenommen und willkürlich wieder frei gelassen. Tom vermutet, dass er gefoltert wurde. Tom zieht mit seiner Freundin nach Hamburg, um seinen Master zu machen. Nabil lebt mit seiner Freundin mit einem zwei Monate gültigen Visum im Libanon und hofft jeden Tag auf das Visum aus Deutschland.
  • Höhepunkt: wird nicht erzählt. Wir erfahren nicht, ob es Nabil gelingt, nach Deutschland zu fliehen und Tom damit sein Ziel erreicht.
  • Erzählabschnitt: Ohne Auflösung des Konfliktes und Beantwortung der dramatischen Frage kann es auch keinen sechsten erzählabschnitt geben.